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Festrede 1980 Dr. Martin Kruse (Berlin)

 

Die Wahrheit wird euch freimachen

Verehrte Gäste, liebe Georgianerinnen und Georgianer!
Als einem, der seinerzeit nur probeweise, also mit einem Schuß Gnade, in die Sexta des ehrwürdigen Georgianums aufgenommen wurde, ohne daß es je zu einem Widerruf der Probe gekommen wäre, ist es mir eine Genugtuung, daß Sie ausgerechnet mir die Festansprache zum Georgianertreffen übertragen haben.
Ich erinnere mich an jenen Vormittag im April 1938 - ich meine, es war der 18. April - an dem wir, ein kleiner Haufen, von der Evangelischen Schule hinter der Post in Marsch gesetzt wurden - buchstäblich in Marsch gesetzt, ich hatte Mühe, Schritt zu halten, als wir durch die Marienstraße, quer über den Marktplatz (damals hieß er "Adolf-Hitler-Platz"!), dann bei Kobert um die Ecke, stracks auf das Georgianum zumarschierten.
Der Vordereingang war für das Kollegium und Herrn Goldkuhle, den Hausmeister, reserviert (es hatte später seine besonderen Reize, nun gerade diese Tür, meistens als Ausgang, doch zu benutzen. Eine Gesellschaft, in der man sich alles leisten kann, die ist langweilig). Wir marschierten an diesem Morgen um die Turnhalle herum. Zur Rechten der träge Stadtgraben, die RattenBeeke genannt, dann bogen wir auf den Schulhof zu. Und da waren wir an Ort und Stelle, gespannt und bereit zur Aufnahmeprüfung.
Wir blieben mit vorgesehenen Unterbrechungen (ich meine: die Ferien) und mit viel mehr unvorhergesehenen Unterbrechungen (ich meine: Fliegeralarm, Kohleferien, Schanzeinsatz, Kriegsdienst, Belegung der Schule mit holländischen Zwangsarbeitern, Schließung für einige Monate nach dem Zusammenbruch) von 1938 bis 1947 Schüler der Anstalt, des Georgianums.
Die Jüngeren - das ist keine Frage des Lebens, sondern des Schulerfahrungsalters - mögen Nachsicht üben, wenn es uns nicht gelingt, die Bilder in unserem Gedächtnis auszuwechseln, nämlich das Bild der alten, längst abgerissenen Penne durch das Bild dieses neuen, größeren und objektiv gesehen natürlich besseren Schulgebäudes zu ersetzen.
Wir zwängen uns also vom Schulhof durch die enge Pforte des Hintereingangs - neben der Mauer zur Backstube v.d. Brelie, eine Art illegitimer, aber gern benutzter Trimmpfad - ein paar Stufen, dann die Pendeltür, mit der. man mit einiger Geschicklichkeit einen wüsten Knall erzeugen konnte, als gelte es, die Schallmauer zu durchbrechen - dann eine Biegung nach links durch einen engen, dunklen Flur, bis sich der Raum zur Halle weitet.
Und hier möchte ich Euch nun bitten, in Gedanken stehenzubleiben und einen Halbkreis zu bilden, zum Treppenaufgang hin geöffnet. Da ich immer der Kleinste und Jüngste in der Klasse blieb und darum bis zum Abitur den Spitznamen "Küken Kruse" trug (auch zur Unterscheidung von "Kruse-Günther", meinem älteren Bruder, mit dem ich die ganze Zeit in einer Klasse war) - ich darf mich also wohl eine Treppenstufe höher stellen, damit ich Euch zeigen kann, was mir in der Erinnerung an unsere Schule wichtig geworden ist.
Da, an der blaßgrünen Wand im Treppenaufgang stehen die großen griechischen Buchstaben
 
 (Das ist nicht ganz korrekt geschrieben)
(Johannes 8, 32) die Wahrheit wird euch freimachen.

Wir konnten die Buchstaben nicht selbst entziffern, sie gehörten einer fremden Sprache an, die für uns jedenfalls nicht mehr zum Unterrichtsangebot der Schule gehörte (genau in den Jahren 1938 bis 1947 war das Gymnasium Georgianum in eine Oberschule für Jungen umgewandelt.).
Wir mußten uns diese Schrift an der Wand übersetzen lassen, wenn wir sie damals überhaupt bewußt zur Kenntnis genommen haben. Sie blieb da stehen - wie ein Menetekel? Wie ein prophetisches Zeichen der Hoffnung? Niemand kam offenbar auf den Gedanken, sie zu löschen. Es lag damals vieles im Zwielicht für uns. Es war nicht alles gleichgeschaltet, wie es vielleicht die Jüngeren unter uns vermuten mögen.
„Die Wahrheit wird euch freimachen“ - es war nicht irgendeine Stelle, an der dieses neutestamentliche Wort in unserer Schule angebracht war (Bilder z.B., zu denen man nicht ganz steht, die bekommen eben ihren Platz dort, wohin der Blick nicht sofort fällt. Aber auf dieses Wort sollte offenbar der Blick fallen!).
Unsere Schule sollte es also mit der Wahrheit und mit der Freiheit zu tun haben. In erster Linie mit der Wahrheit, in der Zuversicht, daß daraus notwendigerweise Freiheit erwächst. Die Wahrheit befreit, macht unabhängig.
Sind das große Worte? Leere Hülsen, die sich beliebig füllen lassen? Um welche Wahrheit ging es da eigentlich? Vielleicht ist es vermessen, in einer kurzen Festansprache diese Frage überhaupt zu stellen, geschweige denn, sie zu beantworten. Aber ich möchte trotz aller meiner Bedenken den späten Versuch wagen, die Schrift an der Wand für uns ein wenig zu entziffern.
Ging es denn in der Schule um Wahrheit? Es ging überall um Wissen, um Ausweitung und Vermehrung der Kenntnisse: Rechtschreibung und Zeichensetzung, Syntax, seht viele Vokabeln, mathematische und naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten, Kenntnis der Literatur. Und auch die Geschichte erschien zunächst wie eine unabsehbare Ansammlung von Fakten und Zahlen.
Bildungsgüter also in Hülle und Fülle. Ich erinnere mich noch genau, wie ich als Sextaner in elner Pause in die Prima in den 2. Stock geschlichen bin, um mit Ehrfurcht und Schaudern die geheimnisvollen mathematischen Zeichen zu bewundern, die dort an der Tafel standen. Soweit konnte man also vordringen im Reich des Wissens! Die Abiturienten, die da lässig herumstanden, erschienen mir wie Halbgötter.
Bildungsgüter also in Hülle und Fülle. Aber worauf wollte das Ganze hinaus? Wofür war das alles. gut? Was ist überhaupt gut und was ist böse? Was ist der Sinn des Ganzen? Was sollen wir erwarten, von uns selbst und von einer schwer deutbaren Zukunft, damals nicht weniger schwer als heute.
Ich will nicht gering achten, daß der Zugewinn an Kenntnissen und geistigen Fertigkeiten auch ein Stück Freiheit verschafft, nämlich Einblick und Überblick über das, was man Wirklichkeit nennt, Erhellung von Zusammenhängen, Aufklärung im weitesten Sinne - in alledem auch Grundlegung für spätere Berufswege. Ich will das Wissen, das die Schule vermittelt, nicht gering achten. Wir alle zehren mehr als uns im Alltag bewußt ist von den frühen Zeiten eines frischen Gedächtnisses.
Jetzt im August waren wir im Hochschwarzwald auf Urlaub. Es gibt dort interessante Hochmoor-Reservate. Und sofort stellte sich die Erinnerung an den Unterricht zum Thema "Lebensgemeinschaft - das Moor" bei Frau Crone ein – ich bin ihr vor einem Vierteljahr in Göttingen begegnet. Wie könnte ich verachten, was diese Schule mir beigebracht hat! Ich bin ihr sogar manchmal gram gewesen, daß sie mir nicht mehr beigebracht hat, und anderes.
Aber die Schule kann sich niemals darin erschöpfen, Wissen, Fertigkeiten Und Verhaltensweisen zu vermitteln. Sie ist keine Institution, die bloß zur Übermittlung und Übertragung von Informationen da wäre. Dann könnte sie z.B. viel weitgehender auf die Person des Lehrers verzichten. Aber sie darf es nicht, auf keinen Fall!
Ich weiß nicht, ob es Ihnen auch so geht: Von besonderer Kraft und besonderem Gewicht sind in der Erinnerung Lehrer, die nicht nur etwas vermittelt haben, sondern die sich selbst, ihre Leidenschaft, ihr Fragen und Suchen nach der Wahrheit mit einbrachten, nicht so, daß sie von uns dabei einfach die Übernahme ihrer Überzeugungen, ihrer Wertungen erwarteten - das ist der Unterschied zwischen Ideologie und Wahrheit: Die Ideologie hat man, man kann sie handhaben und übertragen (meint es jedenfalls zu können); die Wahrheit. aber hat man nie, man kann sie nicht handhaben und manipulieren, nicht einimpfen, nicht überstülpen. Wer der Wahrheit nachgeht, muß Freiheit gewähren. Er muß Wahrheit bezeugen, für sie mit seiner Person einstehen, erzwingen kann er sie nicht.
Nein, die Schule kann sich nicht darin erschöpfen, Wissen und Fertigkeiten ,zu vermitteln, sie muß auf den Weg der Wahrheit bringen wollen. Daran erinnert die fremde Schrift an der Wand im Treppenhaus.
Wahrheit - das ist nun allerdings ein unbequemes, in der gegenwärtigen pädagogischen Diskussion fast vergessenes Wort. Man spricht heute von Werten und Normen. Das ist sachlicher; ob es wirklich sachgemäßer ist? Ich bezweifle das!
Aber was ist Wahrheit? Die uralte Pilatusfrage stellt sich sofort ein, wenn das Wort „Wahrheit“ fällt. Die Frage des Pilatus aber ist nicht etwa bloß von der Skepsis diktiert, sondern von der Ahnung, daß die Wahrheit ihm in der Person Jesu als höchst unbequem, als störend, als Herausforderung zu einem neuen, anderen Lebenskonzept entgegenkommt.
Die Frage nach der Wahrheit ist und bleibt die große Störung Sie ist ja nicht eine Sache des Kopfes, sondern der ganzen Existenz, der Lebensrichtung. Man kann sich dann nicht mehr einrichten in dieser Welt und es sich bequem machen, sich auf dem Erreichten ausruhen. Man wird mit seinem Leben und Denken, mit seinem Handeln und Nicht-Handeln in Frage gestellt. Das bequeme Leben ist ein Leben in der Illusion oder, wie es das Neue Testament in Schonungslosigkeit sagt: Es ist ein Leben in der Lüge.
Wir können nicht darüber hinwegsehen, daß dieses Wort an der Wand unserer alten Penne auf das Neue Testament, auf die Person Jesu verweist, der sich selbst als 'die Wahrheit' bezeichnet; nicht in dem Sinne, daß er gleichsam der vollendete Brockhaus, das Super- Kompendium alles Wißbaren sei, sondern daß er die einfache Wahrheit über den Menschen, über unsere Welt ans Licht bringt und den Menschen aus seiner Unfreiheit erlöst.
In unserer Sprache läßt sich zu dem Begriff 'Wahrheit' bezeichnenderweise ein doppelter Gegensatz bilden: nämlich Irrtum und Lüge. Beides ist eine Form von Unfreiheit. Gegen beides muß die Schule angehen, wenn sie junge Menschen auf den Weg der Wahrheit bringen will.
Die Wahrheit im Gegensatz zum Irrtum, das ist die Wahrheit über Sachen und Sachverhalte. Irrtum kann teuer zu stehen kommen - ein Irrtum bei der Bedienung eines Atomkraftwerkes zum Beispiel. Aber Irrtum läßt sich aufklären. Das ist eine Sache des Wissens, der Kompetenz.
Lüge aber geht den Menschen als Person an, ist das Unterdrücken von Wahrheit, das Leben im Widerspruch. Sachen können nicht lügen. Nur wir Menschen können im Widerspruch leben, am wahren Leben vorbeileben. Es wäre schlimm, wenn wir dem Wort Lüge in diesem Zusammenhang einen moralischen Sinn unterschieben würden. Es gibt ehrenwerte Lebenslügen, mit denen wir den harten Wahrheiten und Realitäten unserer Existenz unserer Welt ausweichen.
Nach der Wahrheit wahrhaftig zu fragen, das ist die Aufgabe jeder neuen Generation. Aber mit dieser Aufgabe kommen wir, solange wir leben, nicht ans Ende. Wie es der Apostel Paulus einmal für die Christen beschrieben hat: "Nicht, daß ich's schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich's wohl ergreifen möchte, nachdem ich von Christus Jesus ergriffen bin" (Philipper 3,12).
Als ich mir Gedanken zu dieser Festrede machte, fiel mir das Juli-Heft 1980 der angesehenen katholischen Monatsschrift 'Herder-Korrespondenz' in die Hand. Der Leitartikel trägt die Überschrift "Nicht wahrheitsfähig?", d.h. ist unsere Gesellschaft, der wir zugehören, noch zur Wahrheit fähig? Als Motiv ist diesem Leitartikel ein Wort von Carl-Friedrich von Weizsäcker vorausgestellt: "Nicht eine glücksorientierte Gesellschaft, eine wahrheitsorientierte Gesellschaft hat Zukunft".
Vielleicht habe ich mit dieser Erinnerung an jene Schrift an der Wand im Treppenhaus unserer alten Schule den Rahmen einer Wiedersehensfeier gesprengt. Ich habe aber kein schlechtes Gewissen dabei.